Huschende Schatten, flackernde Fackeln, gerade entzündet. Allenthalben Geflüster. Dazwischen immer wieder laute Schreie und bitteres Weinen. Hektisches Hantieren mit toten Tieren, das Blut von Lämmern wird vergossen und wieder gesammelt, Menschen und Tiere befinden sich in einer Schicksalsgemeinschaft auf Leben und Tod. Wir werden imaginäre Augen- und Ohrenzeugen einer Geschichte der Gefahr und des Grauens. Da rückt ein Volk enger zusammen in seinen Häusern. Sie suchen Schutz im Dunkel mit wenigen Vertrauten, die sie kennen.
Manches kommt uns bekannt vor: Das Gefühl von Bedrohung, die Gegenwart des Todes, das Weinen und das Zusammenrücken. Eine Geschichte wie gemacht für die Passionszeit anno 2020.
Es ist eine Nacht der offenen Fragen, eine Nacht, in der auch der Glaube an Gott an seine Grenzen kommt, weil Gott selbst Grenzen überschreitet. Manchen lässt das erschauern.
Können wir ernsthaft an einen Gott glauben, der die Einen grausam richtet und die Anderen rettet? In Zeiten einer umherschleichenden Seuche, in der alle Grenzen von Freund und Feind zerfließen, sind solche Gedanken plötzlich nicht mehr ferne. Aber mal ehrlich: Jeden und jede kann es treffen. Es wäre doch viel zu einfach, ja brutal, die Überlebenden als die Guten und die Infizierten als die Bösen anzuschauen, die Gott straft. Corona als Strafe Gottes...? Das kann und will ich nicht denken.
Ein Satz in der Geschichte allerdings lässt aufhorchen: Ich werde mein Urteil an allen Göttern Ägyptens vollstrecken, denn ich bin der HERR!
Könnte das auch eine Botschaft an uns sein? Möchte Gott in dieser heftigen Zeit unseren Blick auf das Wesentliche lenken? Sollen wir die falschen Götter loslassen, damit wir unser Vertrauen wieder auf ihn richten?
Wir geben diesen Gedanken in der Stille Raum.
In allem Schweren und nicht Verstehbaren dieser Tage gibt es eine gute Nachricht: Gott schweigt nicht. Gott lässt sich hören. Gott sagt zu seinen Leuten: Das tut. Daran erinnert euch. Ihr sollt feiern und essen. Und aufbrechen!
Warum hat sich diese dramatische Geschichte über 3000 Jahre in unzählig vielen jüdischen Familien gehalten? Warum hat Jesus sie mit seinen Jüngern gefeiert und uns als Christen zum Weitererzählen mitgegeben? Ich meine, weil es im Kern – trotz aller Schatten - eine Rettungs- und Befreiungsgeschichte ist. Sie erzählt, wie Israel aus der Knechtschaft geführt wurde. Aus einer Zeit, in der Unterdrückung, Schläge und Tod an der Tagesordnung waren. Eltern und Kinder sollen diese Erfahrung miteinander teilen und sie gemeinsam hören. Sie sollen sich sagen: Hört, damals in Ägypten war das so. Da standen wir fertig angezogen um den Tisch, bereit zum Aufbruch. Es war gefährlich, lebensgefährlich. Aber Gott war da und hat uns begleitet. Er hat uns herausgeführt aus der Knechtschaft in die Freiheit.
Wenn ich das höre, wage ich den Blick zu uns: Ich bin sicher: Gott steht auch heute bei uns. An unseren Betten ist er, auf den Intensivstationen, in der Einsamkeit der Wohnungen. Mit seinen Worten sitzt er unter uns am Tisch und spricht zu uns: Hört auf mich, dann werdet ihr leben. Ich bin euer Gott, ich führe euch heraus durch das Dunkel ins Licht.
Ich lade uns ein: Erzählen wir einander nachher beim Essen und Trinken, was wir miteinander, mit Gott erlebt haben. Teilen wir Geschichten vom Essen und Trinken. Vielleicht sind es Geschichten von letzten Mahlzeiten. Von Abschieden. Oder erzählen wir uns biblische Geschichten neu, in denen Jesus mit Leuten gegessen hat. Ihr werdet merken: Das macht Mut. Das verbindet uns. Nirgendwo werden Brücken so schnell gebaut wie beim gemeinsamen Essen.
Wir tun das heute nur mit wenigen Leuten, vielleicht sogar ganz allein. Und trotzdem ist Gott dabei. Trotzdem ist unser Geist weit für Erinnerungen: „Wisst ihr noch?“ Und in der Erinnerung wird unsere Seele frei für das, was kommt. Wir fangen an uns wie verrückt zu freuen, wenn wir endlich wieder im großen Kreis essen und feiern können.
Wie damals letzten Sommer, als wir in Hildesheim zwischen Dom und Michaeliskirche eine große Tafel aufgebaut haben und von Tisch zu Tisch gegangen sind. Viele Gemeinden waren dabei und haben an ihren Tisch eingeladen. Singend und erzählend, hörend und staunend waren wir beieinander. Und voller Freude über das, was geht, wenn Christen sich versammeln und Gott dabei ist. Ja, Gott ist groß, er wird bei uns sein. Nein, er ist es schon. Auch jetzt, heute Abend. Amen.